«Volle Dröhnung» – NZZ online, 24. September 2021

Die Treichler liefern den Soundtrack für die Massnahmengegner der Schweiz. Und haben eine klare Vorstellung davon, wie ihr Land auszusehen hat.

Janique Weder, Winterthur (Text),
Annick Ramp (Bilder), Winterthur
23.09.2021, 05.40 Uhr

Es schallt in den Ohren und vibriert in der Brust, als sie um die Ecke biegen. In Zweierreihe, alle mit Holzjoch auf der Schulter und auf jeder Seite eine dicke Glocke schwingend, marschieren die Treichler im Gleichschritt auf den Neumarkt in der Winterthurer Altstadt.

Dort werden sie empfangen wie Pop-Stars. Die Menschen jubeln und klatschen, dazu skandieren sie «Liberté! Liberté!». Die Treichler nicken in Richtung der Handykameras.

Mit dem Einlaufen der Treichler ist die Anti-Corona-Kundgebung eröffnet. Tausende von Menschen sind gekommen. Sie haben Ballons in Herzform an ihre Rucksäcke geknüpft, tragen Protestschilder und Schweizerfahne. Maske trägt niemand. Viele junge Leute tummeln sich auf dem Platz, sie sind in Feierlaune, es riecht nach Marihuana. Später werden hier bekannte Massnahmen-Gegner auftreten und Reden halten.

Doch dieser Moment gerade, er gehört allein den gut 70 Männern und Frauen und ihren urchigen Glocken.

Seit Monaten begleiten die Treichler bewilligte und unbewilligte Kundgebungen gegen die Corona-Massnahmen. Zurzeit haben sie Hochkonjunktur: Der Auftritt in Winterthur ist einer von fünf innert einer Woche.

Organisiert sind die Treichler in zwei Vereinen, es gibt die Freiheitstreichler und die Helvetiatreichler. Man erkennt und unterscheidet sie an der Uniform: Die Freiheitstreichler haben auf ihren weissen Hirtenhemden Enzian, Edelweiss und Schweizerkreuz aufgestickt. Die Helvetiatreichler führen ihre Namensgeberin auf der Brust. Zusammen kommen die Vereine laut eigenen Angaben auf mehr als 250 Mitglieder.

Die Treichler liefern aber nicht nur den Soundtrack für die Anti-Corona-Bewegung im Land. Sie haben auch eine klare Vorstellung davon, wie ihre Schweiz auszusehen hat.

Mit der «Kraft der Urschweiz»

Sie fordern den Rücktritt von Bundesrat Alain Berset und die Aufhebung aller Corona-Massnahmen. Sie sind gegen eine Zertifikatspflicht oder, in ihren eigenen Worten, für nichts weniger als die Rückeroberung ihrer Bürgerrechte.

Die Treichler berufen sich auf Werte wie Bodenständigkeit, Unabhängigkeit und Souveränität. Mit der «Kraft der Urschweiz in zeitgemässer Form» führen sie ihren «Freiheitskampf». Sie sehen sich als Hüter der Bundesverfassung, als die letzten wahren Demokraten der Schweiz.

Doch die Treichler scheinen ihre eigenen Parolen nicht recht zu verstehen.

Erste Versuche, in Winterthur mit ihnen ins Gespräch zu kommen, laufen ins Leere. Diego, ein Freiheitstreichler, erklärt, der Verein habe beschlossen, heute nicht mit Journalisten zu sprechen. «Im Moment ist es heikel, was man sagt. Sie verdrehen dir die Worte im Mund.»

Einige Meter neben ihm steht eine Gruppe von vier Männern. Als sie hören, worum es geht, drehen sie sich demonstrativ weg.

Eine Frau läuft lachend davon.

Die Organisation der Freiheitstreichler ist undurchsichtig. Offizielle Ansprechpersonen gibt es nicht, schriftliche Anfragen bleiben unbeantwortet. Mit der Öffentlichkeit kommunizieren sie über Telegram, einen Nachrichtendienst, der sich in der Corona-Krise zur Schaltzentrale der Unzufriedenen entwickelt hat. Sie selber organisieren sich in Whatsapp-Chats.

Von den Helvetiatreichlern stellt sich Maja Roth vor. Toggenburgerin, Jodlerin, selbständig. Roth ist, wie sie erzählt, bereits einmal positiv auf das Coronavirus getestet worden. Jetzt arbeitet sie ehrenamtlich als Pressesprecherin der Helvetiatreichler.

Roth kündigt am Anfang des Gesprächs an, nur dann Antwort zu geben, wenn die Frage legitim sei.

Was treibt die Helvetiatreichler an?

Roth: «Wir gehen für unsere Grundrechte auf die Strasse. Wir müssen zurück zur Bundesverfassung.»

Auf dem Flyer, den die Mitglieder in Winterthur verteilen, bezeichnet sich der Verein als politisch und konfessionell neutral.

Roth: «Das stimmt. Wir sind bodenständige Bürger und ordnen uns ganz klar nicht politisch ein.»

Wie ist die Teilnahme an Kundgebungen zu werten, an denen die Treichler den Rücktritt eines Bundesrats fordern?

Roth: «An Demonstrationen mitzulaufen, ist kein politisches Statement. Wir treicheln gegen die Massnahmen der Landesregierung, nicht für eine Partei.»

Die Macht der Treichler-Symbolik

Die Treichler wollen die Begleitmusik des Widerstands sein, ohne sich der politischen Dimension ihrer Auftritte zu stellen. Dabei hat die Gegenwart sie längst eingeholt.

Mitte September streift sich Bundesrat Ueli Maurer an einem SVP-Anlass das Hirtenhemd der Freiheitstreichler über und posiert für die Fotografen. Für Roger Köppel sind die Treichler die «letzte Verteidigungslinie der Schweiz». Christoph Blocher spricht von ihnen als «ehrsame Bürger».

Der Altbundesrat kennt die Macht der Treichler-Symbolik. Unvergessen bleiben die Bilder vom November 1992, als Treichler in Sennenhemden vor dem Bundesbriefarchiv in Schwyz gegen den EWR-Beitritt demonstrierten. Blocher liess sich später mit Brissago im Mund und unter dem Joch zweier Glocken abbilden.

Dabei ist Treicheln eigentlich nicht politischer als Jodeln, sondern ein jahrhundertealtes Brauchtum aus heidnischer Zeit. Im Glauben, mit Lärm böse Geister vertreiben zu können, ziehen die Treichler mit ihren Glocken in der Altjahrswoche durch die Dörfer. Besonders verbreitet ist der Brauch im Kanton Schwyz, wo es in fast jeder Gemeinde einen traditionellen Treichlerverein gibt. Im ganzen Land sind es mehr als dreihundert. Alle drei Jahre kommen die über dreitausend Treichler der Schweiz am eidgenössischen Scheller- und Treichlertreffen zusammen.

Einer von ihnen ist Niklaus Spühler, Obmann der Treichlergruppe Zürcher Unterland. Er ist über die Demonstrationen nicht glücklich. «Was diese Leute tun, wirft ein schlechtes Licht auf uns alle.» Wie die meisten traditionellen Vereine hält auch seine Treichlergruppe in ihren Statuten fest, politisch neutral zu sein. Er sei schon angefragt worden, mit dem Verein an einer Anti-Corona-Kundgebung teilzunehmen, sagt Spühler. Aber: «Es käme mir nicht im Traum in den Sinn, gegen die Vorschriften zu demonstrieren.»

Signalwesten für Sicherheit

Die Freiheits- und die Helvetiatreichler tun genau das. Vielmehr: Sie sind das erregende Moment eines Konflikts, der das Land gerade stark polarisiert. Sie denunzieren die Regierung als Diktatur; sie rufen dazu auf, die Schliessung von Restaurants zu verhindern, die sich nicht an die Zertifikatspflicht halten; sie werfen linksextremen Kreisen vor, in Bern eine Eskalation provoziert zu haben.

Gemeint sind die wüsten Szenen an der unbewilligten Kundgebung jüngst auf dem Bundesplatz. Dort hatten Demonstranten Knallpetarden und Gegenstände in Richtung der Polizei geworfen und am Metallzaun gerüttelt. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein. Mittendrin: die Freiheitstreichler.

Man distanziere sich «von jeder Art von Gewalt», schreiben sie später in einem Communiqué. Ohne eigenen Sicherheitsdienst gehen sie nicht mehr an die Umzüge.

In Winterthur sind es acht Männer in gelben Signalwesten, die auf ihrem Rücken das Logo der Freiheitstreichler tragen. Es sind keine ausgebildeten Sicherheitsleute, sondern Freunde und Bekannte der Treichler. «Es braucht uns», sagt einer, «weil die Treichler angegriffen werden. Einem wurden drei Zähne ausgeschlagen.»

Die Treichler an den Anti-Corona-Kundgebungen sind in zwei Vereinen organisiert: die Freiheits- und die Helvetiatreichler.

Geschichten wie diese rücken die Freiheits- und die Helvetiatreichler in den Fokus der Medien. In der Arena des SRF wurden sie scharf kritisiert. Der Moderator Sandro Brotz nannte ihre Aktionen «undemokratisch», «unwürdig» und «unschweizerisch». Der «Sonntags-Blick» schrieb über die Verbindung der Treichler zur rechtsextremen Szene und titelte mit «Glocken der Wut». Die «Schaffhauser Nachrichten» fragten in einem Gastbeitrag: «Ist das noch Brauchtum oder nur noch Missbrauchtum?»

Die Treichler polarisieren, so viel steht fest. Sie sind längst mehr als die Randfiguren eines Protests. Ihr Verhalten lässt in einem von der Corona-Krise aufgewühlten Land kaum jemanden kalt.

Das traditionelle «Uustrychle»

In Winterthur kommen die Treichler nach eineinhalb Stunden Umzug zum Höhepunkt. Noch immer im Gleichschritt formieren sie einen Kreis, gehen in die Knie und erhöhen das Tempo ihrer Schwingungen. Auf dem Platz wird es jetzt ohrenbetäubend laut. Die Klangwellen sind am ganzen Körper zu spüren. Eine Minute dauert das traditionelle «Uustrychle». Dann ist der Auftritt vorbei.

Ruhe. Der Demo-Veranstalter Urs Hans taucht auf der grossen Videoleinwand auf und kündigt die ersten Referenten an, die sich über die Corona-Massnahmen auslassen werden.

Die Freiheits- und die Helvetiatreichler ziehen ab. Das Reden überlassen sie den anderen.

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