Schliessen wir den Pandemie-Graben

Olaf Hermann am 30. Oktober 2021, Die Ostschweiz

Wenn Sie diese Zeilen vor sich haben, dann wurden Ihnen diese höchstwahrscheinlich von einer guten Freundin, einem Familienmitglied oder einem Arbeitskollegen weitergeleitet. Diese Person gelangt als Bittstellerin an Sie, also aus einer sehr unkomfortablen Position heraus. Ich bitte Sie deshalb inständig und trotz der Länge dieses Textes, bis zu Ende zu lesen. Denn am Schluss kommt ein Handlungswunsch.

Die Fronten auf beiden Seiten der Impfdebatte scheinen verhärtet zu sein. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass in unserer Gesellschaft noch genug gemässigte Kräfte und helle Köpfe vorhanden sind, die sich einer anderen Perspektive nicht verwehren und über die nötige Empathie verfügen, wirklich hinzuhören. Und genau an diese besonnenen Freunde, Bekannte und Familienmitglieder richtet sich dieser Text.

Die ungeimpfte Minderheit steht zur Zeit am Abgrund. Wirklich. Denn für sie gibt es bei einem Ja zum Covid-Gesetz nur zwei Optionen: Entweder sie beugt gegen ihre tiefe Überzeugung dem unerträglich gewordenen Druck und lässt sich impfen, oder sie wird aus der Gesellschaft nicht nur de facto, sondern auch de jure ausgeschlossen. Dies sind jedoch nur vermeintliche Optionen, denn das Resultat ist für die Betroffenen identisch: Sie werden marginalisiert, ausgeschlossen, in den Abgrund gestossen.

Ein Nein zum Covid-Gesetz hat für die Geimpften weit weniger Konsequenzen. Ihre Sicherheit bleibt auch bei einer Ablehnung weiterhin gewährleistet. Die Impfungen haben sie ja bereits erhalten und auch alle zukünftig regelmässig geplanten Booster-Impfungen werden selbstverständlich für Impfwillige nicht verboten. Auch alle physikalischen Schutzmassnahmen dürfen selbstverständlich weiterhin angewendet werden.

Sicher wird auch dieser Wahlkampf beiderseits, wie alle andern, mit harten Worten und provokativen Plakaten geführt werden. Man könnte nun an dieser Stelle die unzähligen Argumente beider Seiten gebetsmühlenartig wiederholen und dann stolz zur «demokratischen Abstimmung» schreiten. Da jedoch auf argumentativer Ebene die Meinungen auf beiden Seiten mehrheitlich zementiert zu sein scheinen und gegenseitige Überzeugungsversuche selten Früchte tragen, soll für einmal eine andere Perspektive eingebracht werden.

Aufruf zur Besonnenheit

Üben wir uns für einmal in Besonnenheit, hören wir einander zu. Regeln wir es, wie in der Familie oder unter Freunden. Denn diesen Text hat Ihnen ein Freund oder eine Freundin geschickt!

Geht es nämlich ans Eingemachte, dann wirft man nicht mit Argumenten um sich und stimmt dann einfach ab. Es wird stattdessen diskutiert, es werden gegenteilige Meinungen nicht nur oberflächlich angehört, sondern wirklich zu verstehen versucht und es wird am Schluss eine Lösung ausgehandelt, mit der alle irgendwie leben können. Ja, oft wird sogar ganz bewusst einer Minderheit deren Lösung zugestanden. Und dies nicht etwa deshalb, weil man seine Meinung geändert hätte, sondern ganz einfach deshalb, weil diese Lösung für diese Minderheit der einzig erträgliche Weg ist um weiterzuschreiten. Das nennt sich dann echte Toleranz! Echt deshalb, weil sie einem etwas abverlangt, weil sie von einem etwas fordert, nämlich die Perspektive von Personen zu übernehmen, welche anders denken als man selbst und möglicherweise entgegen der eigenen Meinung zu handeln.

Bei wirklich wichtigen Fragen wird nach Lösungen und Kompromissen gerungen und nicht nach Mehrheiten. Wäre dem nicht so, wären Beziehungen innert kürzester Zeit zerrüttet. Dies und nicht etwa eine (womöglich noch anonyme) Stimmabgabe nach einem Wortgefecht ist die Essenz, die Gemeinschaften überhaupt Bestand verleiht.

Über was stimmen wir eigentlich ab?

Vor wichtigen Abstimmungen in der Vergangenheit wurde oft behauptet, das sei jetzt das «Killerthema» überhaupt und es werde «unwiderruflich» über unser Schicksal entschieden. Auch ich habe mich in Diskussionen oft in diesen geflügelten Worten geübt, um dem Ganzen mehr Dramaturgie zu verleihen. Ich habe mich geirrt. Denn all die sogenannt wichtigen Entscheidungen, die wir in der Vergangenheit getroffen haben, können – wenn auch über mühsame Prozesse oder finanzielle Einbussen – in irgendeiner Form korrigiert werden, wenn sie sich im Nachhinein als falsch erweisen sollten. Ja, sogar der Neat-Tunnel liesse sich zuschütten.

Dass dies bei der kommenden Abstimmung anders ist, zeigt schon der Umstand, dass sich seit Monaten Betroffene aller politischen Richtungen vereint (u.a. an Kundgebungen) gemeinsam dafür einsetzen, dass ihnen Toleranz gewährt wird. Etwas das es in der Schweiz in dieser Form noch niemals gegeben hat. Im November stimmen Sie nämlich nur vordergründig über das Sachthema Covid-Massnahmen inkl. Zertifikat ab.

Wenn Sie das Covid-Gesetz annehmen, teilen Sie Ihren Freunden und Familienmitgliedern nämlich Folgendes mit:

Sie teilen ihnen mit, dass Sie deren Art, wie sie mit der Pandemie umgehen möchten, nicht akzeptieren. Sie teilen ihnen mit, dass Sie deren körperliche Integrität nicht akzeptieren und diese sich der Impfung fügen müssen – denn auf nichts anderes laufen alle Massnahmen hinaus – oder von der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Sie werden damit keine Einsicht erlangen, genauso wie man bei keiner Abstimmung jemals Einsicht erlangt. Sie werden bestenfalls Fügung erzwingen. Der bereits vorhandene Graben (und der mag für Sie vielleicht sogar unsichtbar sein) zwischen Ihnen und Ihren Freunden und Familienmitgliedern wird so weit aufgerissen, dass er aus Sicht der Gebeugten vermutlich nie mehr geschlossen werden kann. Diese Freunde und Familienmitglieder werden weggestossen, ohne ihnen eine für sie gangbare Option zu gewähren. Denn die Verletzung der körperlichen Integrität ist mit nichts vergleichbar und für die Betroffenen nicht verdaubar.

Auch für einen wachsenden Teil geimpfter Personen, welcher gegenüber einer dritten und vierten Impfung kritisch eingestellt ist, bleibt ein Ja zum Covid-Gesetz nicht ohne Folgen. Diese Personen bangen, dass sie ihre aktuellen Privilegien, welche sie mit dem Zertifikat vorübergehend zugestanden bekommen haben, bei der Verweigerung der Folgeimpfungen bald wieder verlieren werden (vgl. die Geschehnisse in Israel). Der Bund hat sich bereits 21 Millionen Impfdosen für die Jahre 2022 u. 2023 gesichert. Insgesamt hat er sich rund 56 Millionen Dosen gesichert (Quelle).

Wenn Sie jedoch beim Covid-Gesetz Nein stimmen, dann passiert bezüglich der Massnahmen Folgendes: Erst einmal gar nichts. Sie müssen sich als Geimpfter nicht um Ihre Gesundheit fürchten. Selbstverständlich dürfen und sollen Sie sich weiterhin so schützen, wie Sie es in Ihrer Eigenverantwortung für richtig befinden.

Es wird aber noch etwas anderes passieren und dies ist unendlich viel wichtiger:

Sie teilen Ihren Freunden und Familienmitgliedern mit, dass Sie bereit sind, sich für sie einzusetzen. Sie teilen ihnen mit, dass Sie sie noch dabei haben möchten. Dass sie sich sogar gegen Ihre Überzeugung für sie Einsetzen gibt dem Ganzen ein enormes Gewicht und hilft, den Graben zu schliessen.

Zudem teilen Sie Bundesbern mit, stopp, wir wollen einen echten Dialog, in dem alle Betroffene eine Stimme haben. Denn nur im Dialog unter Einbezug aller Beteiligten können Lösungen gefunden werden, die für alle erträglich sind. Zu diesem Lösungsfindungsprozess sollten dann auch die aktuell nicht genehmen, jedoch zahlreich vorhandenen Stimmen aus Wissenschaft und Gesellschaft eingeladen werden. Denn wenn etwas sicher ist, dann folgendes: Es gibt für gesellschaftliche Probleme nie nur eine Lösung. Nie.

Sie teilen allen weiterhin mit, dass Sie die Grundwerte, die vor Generationen für unsere westliche Gesellschaft ausgehandelt wurden, weiterhin bedingungslos anerkennen. Diese Grundwerte haben deshalb so viele Krisen überdauert, weil deren Intention ist, dass sie immer über einzelnen Sachfragen stehen. Bis vor kurzem hat diese Maxime jeder noch implizit mitgetragen. Sie zeigen damit allen, dass Sie die erfolgreichen Fundamente unseres Zusammenlebens um keinen Preis erschüttern wollen. Sie anerkennen, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt – ganz im Sinne der philosophischen Stossrichtung des ethischen Handelns nach Immanuel Kant.

Wenn Sie den Schritt wagen und Nein stimmen, dann helfen Sie nicht nur dieser Freundin oder diesem Familienmitglied, von dem Sie diesen Text erhalten haben. Sie helfen auch unserer Gesellschaft wieder auf die Beine, die im Moment mehr als nur angeschlagen ist.

Was können Sie konkret tun?

Ich wünsche mir von Ihnen allen, egal ob geimpft oder ungeimpft, dass Sie den Link zu diesem Text weiterleiten und zwar nicht nur, aber insbesondere an Geimpfte. Viele von Ihnen wird dies Überwindung kosten, vielleicht deshalb, weil ein harter Dialog oder sogar ein langes Schweigen zu diesem Thema vorangegangen ist. Ich bitte Sie trotzdem darum, denn wie sonst soll eine grosse Masse erreicht werden?

Wichtig! Damit der Text nicht einfach wie ein Spam-Mail weggeklickt wird, sondern auch gelesen wird, bitte ich Sie, die Empfängerinnen und Empfänger persönlich anzuschreiben. Ich für mich mache dies beispielsweise so:

«Liebe Heidi, das im verlinkten Text beschriebene Anliegen ist mir persönlich sehr wichtig. Ich bitte Dich deshalb, Dir ein paar ruhige Minuten zu gönnen, den Text zu lesen und mich zu unterstützen. Es geht mir hier um sehr viel.»

Das Schlusswort überlasse ich Jean-Jacques Rousseau: «Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern dass er nicht tun muss, was er nicht will.»

Medien